Ach, die Bücherhallen. Was haben wir nicht schon alles miteinander durchgemacht!
Als ich neu in die Stadt kam, kannte ich nur die kleine Stadtbücherei meiner alten Heimat und Universitätsbibliotheken. Dort erfolgte die Recherche teils noch in Karteikästen, die ausgewählten Bücher wurden am Schalter überreicht und das Angebot beschränkte sich auf Sachliteratur.
Wie anders in der Zentralbibliothek, damals noch in der Großen Bleichen! Raum zum Stöbern, Gelegenheit, sich duch die Regale treiben zu lassen und mal hier, mal da reinzulesen. Am Ende neben dem, weswegen man gekommen war, noch fünf andere Sachen mitzunehmen – damals hatte ich ja noch reichlich Zeit zum Lesen. Auch im Studium waren die HÖB meine treuen Unterstützer, nun mit Noten, CDs und DVDs. Nach meinem Abschluss trennten sich unsere Wege für ein paar Jahre, aber in meiner Erinnerung blieb ich ihnen treu.
Meine Bücherhallen
Lebensumstände ändern sich. Nach Hamburg zurückgekehrt, entdeckte ich eines Tages, dass die örtliche Bücherhalle einen Abstellplatz für Kinderwagen hat und außerdem eine gemütliche Krabbelecke mit zahlreichen Kästen voller Bilderbücher. Komplett wurde das neue Ausflugsziel durch Sitzkissen auf dem Boden und einen großen Haufen Kuscheltiere. In der ruhigen Atmosphäre der Bücherei verbrachten wir öfters den halben Nachmittag. Mal wurde vorgelesen, mal gespielt, und manchmal schlief auch ein Kind einfach ein nach dem anstrengenden Kita-Tag.
2004, während ich mich anderswo herumtrieb, war die Zentralbibliothek in den Hühnerposten umgesiedelt. Als ich zum ersten Mal dort vorbeischaute, fiel mir auf, dass auch hier die Gemütlichkeit enorm zugenommen hatte. Natürlich lag das einerseits daran, dass schlicht mehr Platz war als an den Großen Bleichen. Dafür waren mehrere Teilbibliotheken ins Gebäude eingezogen, die vorher an externen Standorten gesessen hatten, u.a. die Filmabteilung und die Musik. Aber es war nicht nur das: Es gab überall verteilte Sitzgelegenheiten, Arbeitsräume und Leseecken. Der Kaffeekiosk im Foyer war so nahtlos eingebunden, dass man keine Scheu haben musste, sich mit Buch zum Kuchen zu setzen. (Aber da kam ich natürlich kaum zu, weil die Kinderbibliothek zu nah war, und da darf man den Kaffee leider nicht mit rein nehmen.)
Übrigens gab es einmal Pläne für einen futuristischen Neubau (siehe S. 12) auf dem Domplatz. Der entsprach aber wohl nicht den Geschmack von einigen wichtigen Leuten, außerdem saugte die Elphi mehr Geld auf als erwartet, und so wurde das Projekt abgeblasen.
Als ich auf Jobsuche war, war die Zentralbibliothek ein beliebter Treffpunkt mit anderen in der gleichen Situation: günstig gelegen, einladend und nicht so teuer. Ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn man wenig Geld hat, und so ging es uns allen. In einer Bibliothek zu sitzen, gibt ein anderes Gefühl als in einem Cafe – es ist nicht nur ein Ort zum Entspannen, sondern auch einer, an dem sich Neues entwickeln kann. Die Bücher strahlen einfach solche Schwingungen ab.
Irgendwann war es dann soweit, dass ich Kinder und einen Job hatte. Was jetzt fehlt, ist Zeit und Ruhe. Wie schön, dass es die Bücherhallen gibt! Ob zentral oder im Stadtteil, hier kann ich kurz abtauchen, wenn ich Besorgungen mache. Es dudelt keine Musik und niemand will mir was verkaufen. Die Bücher sind da und warten ganz ruhig auf mich, und die einzige Hektik ist die, die ich selbst mitbringe. Es ist jedesmal ein bisschen, wie nach Hause zu kommen.
(Fast) Jederzeit offen für alle
Dieses Gefühl vermitteln die Bücherhallen seit einiger Zeit noch mehr. An vielen Standorten braucht man jetzt nämlich nicht einmal mehr Personal vor Ort, um sich aufhalten zu dürfen. So öffnet die Zentralbibliothek seit Anfang September 2021 auch Sonntag nachmittags, unter dem etwas sperrigen Slogan „SO‘nNTAG für Hamburg“. Die Räume am Hühnerposten sind Sonntags von 13 bis 18 Uhr geöffnet. Öfters gibt es Veranstaltungen, man kann aber auch einfach so kommen. Bibliothekare sind nicht vor Ort, nur Aufsichtspersonal. Nach und nach wird das Konzept auf andere Standorte ausgeweitet. Fern der Zentrale heißt es Flexibib: Man hält außerhalb der Öffnungszeiten einfach seine HÖB-Karte unter ein Lesegerät und die Türen öffnen sich. Man kann ausleihen, zurückgeben, stöbern oder sich hinsetzen und lesen. Mit Gabriele Rösch von den Bücherhallen habe ich darüber gesprochen, woher die Idee kommt, wie es eingeführt wird und wie es bisher so läuft.
Sie berichtet, dass die Motivation der Menschen, die Bücherhallen zu besuchen, sich verändert hat. Es kommen nicht mehr nur die klassischen „Leser“, die sich gezielt etwas ausleihen möchten. Die Menschen verbringen mehr Zeit in den Räumlichkeiten, treffen dort Freunde, arbeiten, nehmen an Veranstaltungen teil oder besuchen die Hallen als Ausflugsziel mit Kindern. Die Bibliotheken sind zu einem sogenannten 3. Ort im öffentlichen Raum geworden – ein Ort, der weder zuhause noch Schule / Arbeitsplatz ist. Entsprechend vielfältig ist auch das Publikum. Das Angebot soll ausdrücklich alle ansprechen, es richtet sich nicht an bestimmten Zielgruppen.
Ein erfolgreiches Wagnis
Für Öffnungszeiten außerhalb der üblichen Arbeitszeit kann die Bücherei kein Personal einsetzen, dass verhindern die starren Regeln im Öffentlichen Dienst (denn natürlich sind die HÖB ein öffentlicher Dienst!). Das liegt nicht daran, dass die Bibliothekare und anderen Angestellten keine Lust dazu hätten, die Bücherhallen länger zu öffnen, es ist schlicht nicht erlaubt*. Daher war die „Flexibib“ die logische Folge: Das Angebot ist da, nur zur Selbstbedienung.
Die erste Öffnung ohne Personal gab es schon im Jahre 2014 in Finkenwerder. Der Stadtteil wurde als Testballon ausgewählt, weil er dörflich geprägt und eine gute Sozialstruktur hat. Der Versuch lief gut, viele nutzten das Angebot von Beginn an. Seitdem erweitern die Bücherhallen die Flexibib im ganzen Stadtgebiet. Noch sind nicht alle Stadtteilbibliotheken einbezogen, weil erst die technischen Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Aber viele! Unter anderem Steilshoop, Billstedt und Horn kann man auch auch am Wochenende und nach Feierabend besuchen (über Nacht wird geschlossen). Der jüngste Neuzugang ist die Bücherei im neuen Eidelstedter Stadtteilzentrum „steeedt“.
Und die Besucher kommen, auch wenn sie allein in der Bibliothek sind. Ganz unbeobachtet sind sie dort nicht, schon aus Versicherungsgründen sind Kameras installiert (die Aufzeichnungen werden nach 72 Stunden gelöscht). Dennoch geben die HÖB ihren Besuchern einen gewissen Vertrauensvorschuss mit der Flexibib. Bisher kam es zu keinen Zwischenfällen. Ein Zeichen, dass die Nutzer dieses Vertrauen und die Einladung zu schätzen wissen.
Und sonst? Ganz, ganz viel!
Auch sonst kommen die Bücherhallen den Menschen entgegen. Workshops, Sprachkurse, Angebote für Geflüchtete, eine intensive Zusammenarbeit mit Schulen (an jedem Tag besuchen 10 000 Kinder die Bücherhallen, viele davon im Rahmen von Ausflügen mit Schule oder Kita) aber auch Kurse und Bücherbringdienste für Senioren zeigen, wie sehr sich die Bibliotheken als Teil des Gemeinwesens verstehen. Ein paar Zahlen dazu: 4,8 Millionen Besucher und mehr als 20 000 Veranstaltungen im Jahr – das sind über 13 000 Besucher und über 50 Veranstaltungen täglich. Beeindruckend. Zwei Angebote, die besonders zeigen, wie sehr die Bücherhallen „Sachen zum Anfassen“ anbieten, sind der Makerspace „Fab Lab“ in der Zentralbibliothek und die Saatgutbibliotheken. In denen kann man in vielen Stadtteilen lokales Saatgut tauschen (und damit zum Beispiel eine Grünfläche besäen, für die man die Patenschaft übernommen hat!).
Aber die Bücherhallen laden nicht nur in reale Räume ein, sondern bieten auch online zahlreiche Medien an. Der Trend geht dazu, Filme, Musik und diverse Arten von Texten digital zu entleihen bzw. zu streamen. Die Bücherhallen arbeiten hier mit Streaminganbietern zusammen, die auf Bibliotheken spezialisiert sind, so dass die Kosten nicht erdrückend werden. Denn für die Kundschaft fallen keine zusätzlichen Gebühren an. Alle online-Dienste sind in der Gebühr für die Bibliothekskarte inbegriffen.
Ich persönlich bin altmodisch veranlagt und trage meine Schätze meistens auf Papier oder als CD nach Hause, aber für diesen Artikel habe ich mich in die eBuecherhalle gewagt. Das Angebot ist vielseitig und umfangreich: Neben eBooks, Musik diverser Stilrichtungen und Hörbüchern für Erwachsenen und Kinder gibt es auch internationale Presse- und Statistikportale, Nachschlagewerke und online-Kurse. Wenn ich mir mal beide Beine brechen sollte, wird mir nicht langweilig!
Dennoch: Mein Herz schlägt für die analoge Bibliothek. Für diesen Raum, wo sich das Wissen der Welt und Geschichten versammeln, wo man mit anderen Menschen zusammen sein kann und trotzdem für sich bleiben. Das ist auch die Vision für die Zukunft der Hamburger öffentlichen Bücherhallen: Sie wollen für alle da sein, als Treffpunkt und Ort des Austauschs. Diese Vision verwirklichen sie schon jetzt. Und ich – kann immer wieder nach Hause kommen.
* Falls Ihr Euch jetzt fragt, wieso dann in der Zentralbibliothek am Sonntag Aufsicht vor Ort ist: Dort wird das durch externe Mitarbeiter besorgt, die über eine Agentur zur Verfügung gestellt werden.